10.8.12

La Fille de nulle part. 65. Filmfestival Locarno

Einer der beeindruckendsten Filme beim diesjährigen Filmfestival in Locarno (fern von der Ostsee): La Fille de nulle part, von und mit Jean-Claude Brisseau. (Wir beginnen spät zu berichten, aber wir waren mit Zuschauen beschäftigt). Um einen Eindruck zu vermitteln, eine kleine Rezension des Films La Fille de nulle part:

Ein labyrinthisches Appartement, aus dem immer neue Räume abzuzweigen scheinen – Räume eines Lebens, dessen Spuren in den Regalen zu finden sind: Hunderte Bücher, CDs Platten, Erinnerungen, Träume. Michel (grandios interpretiert vom Regisseur selbst: Jean-Claude Brisseau), ein pensionierter Mathematik-Lehrer, den als alt zu bezeichnen fast bizarr anmutet  – bei der unglaublichen Energie, die er ausstrahlt in diesem Low-Budget-Film, der auf das Wesentliche reduziert ist.

In die Alltagsroutine des philosophisch orientierten Michel bricht das Unerwartete ein, als er die verletzte Dora im Treppenhaus findet, eine junge, rätselhafte Frau: La Fille de Nullepart.  Sie taucht tatsächlich auf wie aus dem Nichts, Michel nennt sie später seinen Schutzengel. Aber, falls überhaupt, dann gibt es verschiedene Sorten von Engeln. Dieser scheint etwas respektlos, mag zugleich Schutz bedeuten und eine ungewisse Art von Bedrohung, im Zuschauer keimen die ersten Zweifel.
Dora, deren Herkunft sich nie wirklich klärt, wirkt gleichzeitig sehr real, stark, ironisch – und irgendwie unwirklich, ätherisch. Ob das wegen ihres abgeklärten, grünen Blicks so ist, wegen ihrer unglaubwürdigen Erklärungen (woher und wie sie in Michels Haus kam)  oder  wegen ihrer Affinität zum Paranormalen, ist schwer zu beurteilen.
Dora (sehr glaubwürdig: Virginie Legay) sieht Dinge voraus, wirkt wie eine Wandlerin zwischen den Welten. Mit ihrer Ankunft beginnen sich seltsame Dinge in der Wohnung zu ereignen – man wird nie eindeutig erfahren, ob Dora die Dinge in Gang setzt oder nur als eine Art Katalysator fungiert: für Etwas, was lange schon in den Abgründen der Wohnung, konkret: in einer Abstellkammer gelauert zu haben scheint.
Zuerst fast unmerklich, dann immer sichtbarer, beginnt das Phantastische in die Realität hineinzukriechen, eine Atmosphäre des Unheimlichen, des Unerklärlichen breitet sich aus. Das philosophische Buch, an dem Michel arbeitet (unterstützt von Dora), und die surrealen Szenen, die in der Wohnung aufscheinen wie Fata Morganas, treten in eine Art Dialog. Was ist Spiritualität, was Religion, was ist llusion, was ist Wirklichkeit, können wir die Wirklichkeit ohne Illusion ertragen, brauchen wir den Glauben an die Wiedergeburt, um den Gedanken an den Tod ertragen zu können.

Als endlich aus jener Kammer sich mit einem Schrei das Unheimliche manifestiert, gibt es wohl kaum jemanden im Kinosaal, der nicht ebenfalls aufschreit oder -seufzt  vor Schreck – aber genau dieser Effekt wäre gar nicht nötig gewesen. Auch so teilt sich dem Zuschauer mit, dass ein dunkles Geheimnis in dieser Kammer lauert - der böse Geist, den Dora in der Wohnung zu spüren behauptet?
Dass sich in manchen Momenten schwarzer Humor zeigt, mit dem Michel das Phantastische durch Skepsis ins Nichtexistente zurückzuwerfen scheint, verhindert, dass das Unerklärliche unglaubwürdig oder lachhaft erscheinen könnte.  Die kraftgeladene Interpretation der Figur Michels durch Brisseau ist grandios. Legeays Dora changiert zwischen Energie und Zerbrechlichkeit, ein trauriger Engel, eine Führerin durch den Grenzbereich zwischen Realität und Phantastisch-Surrealem, zwischen Leben und Tod.
Das Unheimliche kriecht allmählich ins Herz der Zuschauer, dunkle Ahnungen breiten sich nun auch bei ihm aus. Aber wer ahnt, was dann wirklich geschieht? Die Zuschauer? Michel? Dora? Erst spät, ja vielleicht erst nach dem Film, beginnt man sich als Zuschauer die wesentlichen Fragen zu stellen:  Die letzten Fragen.