23.9.09

Konterfei

Ihr Lächeln in unbeobachteten Augenblicken gehört zu einer Parallelwelt, einer versunkenen Kinderwelt. Es ist die Belohnung für alle, die sie nicht angreifen und kommt unvermittelt an bei jedem, der sich ihr unverstellt zuwendet. Wer dieses Lächeln wahrnimmt, schämt sich ein bisschen wie jemand, der etwas gesehen hat, das er nicht sehen darf. Bei einem offiziellen Lächeln dagegen verlagert sich das Wangenfett, schiebt sich nach oben. Die Welt gehört diesem Gesicht und das Gesicht der Welt. Manchmal gehört dieses Gesicht einem Kind, das sich in einem großen steinernen Haus verlaufen hat. Ein verlorenes Gesicht mit schmerzlichen Strukturen. Es gibt derzeit 688.000 Versionen davon im Netz, von Marilyn Monroe gibt es vier mal so viele. Doch in diesem Gesicht gibt es weder Vernetzung noch eine selbstverständliche Koordination von Stimmungssignalen, es ist von Selbstbeherrschung modelliert, nein, glattgestrichen. Eine verbindliche Maske, die dennoch Entgleisungen nicht verhindern kann, die einem ebenso peinlich sind wie das unvermittelte Lächeln. Ein todstarres Gesichtsstillleben zuzeiten. Der rot geschminkte Mund, noch einmal mit einem dunkleren, immer etwas asymmetrischen Schwung konturiert, sendet keine erotischen Signale, sondern zeichnet manchmal etwas Verhärmtes, ja, Verbittertes, fast Böses. Etwas vor Verbitterung kalt und starr Gewordenes, ausharrend im Angstwarten. Er ist dünn, der Mund, wie mit einem Skalpell die noch geschlossene Gesichtsfläche plötzlich klaffend geöffnet. Dünne Lippen, von der Visagistin jeden Morgen ein wenig verbreitert. Dünne Lippen münden zu beiden Seiten in herab fallende Mundwinkel, die ein fleischiges, energisches Kinn abgrenzen gegen zwei zum Hängen neigende glatte Wangen in dem großflächig angelegten Gesichtsfeld. Der Mund ist ein wenig schief, nicht verzogen, als habe der Schöpfer dieses Gesichts aus Versehen einen schiefen Strichmund gemalt. Es ist der schiefe Mund eines schmollenden, vor Angst schmollenden Kindes, das eine Strafe erwartet. Deshalb sieht man auf vielen Fotos diesen Mund manchmal plötzlich in die andere Richtung schief nach oben gezogen. Oft ist die Unterlippe speichelnass, hier liegt die kleine visuelle Schwäche. Die Trägerin des Gesichts neigt zu starkem Speichelfluss, der noch mehr Beherrschung vor allem beim Sprechen verlangt, sodass sie hierbei meist den Mund nur wenig öffnet, ja, oft versucht, fast gewaltsam bei fast geschlossenem Mund zu sprechen. Das sehr runde Kinn wirkt ein wenig aufgeblasen, eine runde kleine Kinderfaust. Darunter viel Halsvolumen, als müsse diese dicke, fettgepolsterte Haut den Kopf stützen, nach oben drücken, eine Art Polster- und Stützinstallation. Die Wangenhaut neigt zur Glätte, wenn da nicht die vielen kleinen Fältchen um die Augen wären. Fältchen, die auf zu wenig Schlaf schließen lassen seit vielen Jahren. Fältchen, die dieses Gesicht fast sympathisch erscheinen lassen. Die Haut der großflächigen Stirn neigt zur Großporigkeit, zu Fett- und Schweißbildung, die mit einem lockeren Fransenpony davon abzulenken versucht. Diese Neigung zur Bildung von Sekreten zeigt sich auf ungünstigen Fotografien oft auch an den glänzenden Innenohrmuscheln. Zwischen Mund und Nase ein dreifingerbreiter Raum. Die Nase ist klein, ein wenig schief, dennoch kräftig. Die wasserblauen Augen, schöne Augen, wenn sie weit geöffnet sind, verweinte Augen, wenn sie bereits 20 Stunden auf den Beinen ist, in der Regel nur schmale Schlitze, ein schmaler schwarzer Lidstrich überbrückt das weiß gepuderte Schlupflid mit den schwarz getuschten kurzen Wimpern. Vom Typ her ist die Trägerin dieses Gesichts eigentlich ein wenig eine Rothaarige – mit jetzt dunkelblond eingetöntem praktisch frisiertem dünnen Kurzhaar, das, wenn es seine Form verliert, einen fast mädchenhaften Eindruck macht. Und das einstmals ein wenig Zarte, Verletzliche, Angreifbare ihres Wesens, das sich mit den Jahren gepanzert und verhärtet hat, schlägt manchmal noch durch wie ein warm flackerndes Kerzenlicht hinter einer russverschmutzten Glasscheibe. Es wird ein herbes, unaufdringliches Parfüm sein, das seine Trägerin jeden Morgen in ihren Ausschnitt sprüht.