14.1.06

24-Stunden-Vorlesung

24-Stunden-Vorlesung in Greifswald. (Sorrry, das wird ein langes Posting) Darf’s ein bisschen Physik sein: Licht und Wahrnehmung, 19-20 Uhr? Sehr unterhaltsam und launig, ich staune, dass RGB keine Erfindung von Photoshop ist, sondern eine Besonderheit der Sensoren (?) im menschlichen Auge. Prof. Lübbert lässt auf dem Overhead-Projektor aus alten CDs selbst gebastelte Kreisel sich drehen, um uns zu beweisen, dass unsere Augen bei der Schnelligkeit nicht mithalten können, sondern veränderte Farben wahrnehmen, Fehlfarben gewissermaßen, er vergisst auch nicht, uns Ratschläge für die Hell-Dunkel-Adaptation zu geben, also im Zweifelsfall eher ohne Licht mit dem Fahrrad durch die Nacht, wenn nicht grade Wurzeln oder große fast unsichtbare Bernhardiner im Weg liegen.
Oder lieber die Rechtsmedizin: Tötungsdelikte in deutschen Volksmärchen, eine rechtsmedizinische Betrachtung, 23 bis 24 Uhr. Wenn man noch Platz gefunden hat. Die reinste Party im Treppenhaus der alterwürdigen Uni, deren Hörsäle so kalt sind, dass man fast lieber nach Hause ginge – wenn’s nicht so unterhaltlich wär. Wohl der oder dem, der vorher eine der köstlichen Suppen gegessen hat, die im Erdgeschoss für 1.50 angboten werden, vom Asta scheint’s.
Statt Tötungsdelikten lieber Satire: obwohl auch da die Tötungsdelikte nicht weit sind. Vom Satiriker zum Chirurgen und der Kusstechnik Breschnews: Anmerkungen zur russischen Satire des 20. Jahrhunderts. Prof. Düring rast durch die Satire-Geschichte, wir lauschen atemlos, aus dem Hörsaal kommen wir ohnehin nicht mehr raus, weil draußen alles voll von Leuten ist, da wird gesungen und gepartiet, und der arme Prof. muss seine Stimme strapazieren, aber das tut er mit Leidenschaft. Da steht er umringt von seinen Büchern und liest uns satirische Auszüge vor, die hier nicht wiedergeben werden können ebenso wenig wie die Literaturliste wie die wichtigsten Kennzeichen der Satire, da heute keine Mitschrift gemacht wird, jedenfalls: wir haben uns amüsiert, über Stalin vor allem (Ja: per Satire kann man auch darüber lachen!), über sowjetische Badeanstalten und Zuber, am meisten allerdings über die Breschnewsche Kusstechnik: Wir wissen jetzt genau Bescheid, ab sofort muss man sich vor uns hüten. Und vor der Spucke. In Diktaturen gedeihen die schönsten Satiren, das Lachen der Verzweiflung gewissermaßen, für die Autoren unter Todesgefahr-, Lager oder Exilgefahr, und öfter bleibt das Lachen im Halse stecken. Macht aber nix. Wir haben uns trotzdem amüsiert. Und was dabei gelernt.
Dann übergangslos zur: Rhetorik oder Verkündigungen der Nacht, 0 bis 1 Uhr. Und wehe, wer sich auf einen Platz mit blauer Karte gesetzt hat! Der darf sich gleich auf die Königsposition begeben, auf der zuvor die Dozentin stand. Bürger, Römer, seid willkommen oder so ähnlich. Große Gesten. Wir sind in so eine Art Theater-Workshop geraten und Frau Golpon hat das Publikum bzw. die WorkshopteilnehmerInnen in der Hand. Die StudentInnen melden sich sogar freiwillig! Aber Frau Golpon kommt von der Schauspielerei, sie spielt Ball mit dem Publikum, sie spielt Stimme mit dem Publikum, es werden Aufgabenkärtchen verteilt und ich würde mich am liebsten unter der Bank verstecken. Aber es genügt schon, Frau Golpon nicht in die Augen zu blicken. Außerdem sind viele Studenten schon gut domptiert und spielen mit, so dass die Unwilligen nicht weiter auffallen. Da dürfen sie schöne Reden halten in unterschiedlichen Modulationen. Sie sind der König von Theben. Wir sind mitten auf dem Marktplatz, Hört Hört! Wir sind auf dem Forum Romanum. So nicht! Wir sind im Theater. Wir klatschen Beifall, wie sich’s gehört. Zwischenrufe. Aahs und Buuhs. Und das Theater endet mit rauschendem Beifall, das Publikum tobt, die SchauspielerInnnen verbeugen sich, die Dame mit der Hauptrolle in der Königinnenposition! Das war ein schöner Verkündigungsworkshop! Und dazu noch kostenlos.
Ob da die "Billardkugeln, Moleküle, Großrechner" noch punkten können? Auch wenn das Gedrängel langsam nachlässt: Es geht weiter jedenfalls bis morgen bzw. heute nachmittag um 16.00 Uhr. Für alle, die nicht schlafen können: nix wie hin!