12.10.06

Orhan Pamuk: Schnee

Erinnerung an die Lektüre von Schnee (Buch grade nicht zur Hand, auf alle Angaben: keine Gewähr). Das Buch zieht die LeserIn sofort in Bann. Unvergesslich die Atmosphäre des eingeschneiten Kars, zwischen Traum und Alptraum, die Erlebnisse des Dichters K., den man niemals wirklich kennenlernt, so wenig wie die Stadt Kars, ihn versteht die LeserIn (wahrscheinlich auch der Leser) nicht, die Stadt nicht, eine fremde Welt, deren Fremdheit der Schnee noch steigert. Gleich dem Dichter K. ist man in dieser Stadt gefangen, der Schnee, der Schnee lässt einen nicht los, die Bedeutung des Schneekristalls erschließt sich erst allmählich, und gerade als man dabei ist, etwas zu verstehen, ist die Leihfrist der Stadtbücherei abgelaufen ...
Dieses Buch ist wie ein Schnee-Sog, in den man hineingerät, während der Schnee unaufhörlich fällt, man geht durch die stille, weiße Stadt Kars, zusammen mit K., der in dieser Stadt erstmals nach langer Zeit wieder Gedichte schreiben kann.

Zusammen mit K. versuchen wir diese Stadt zu verstehen, hören den vielen Gesprächen zu, die er führt, mit den Kopftuchmädchen, mit den jungen Männern aus der Predigerschule (war’s die Predigerschule? Vorbeterschule?), wenn man jetzt nur die Namen parat hätte, unaufhörlich versucht man zu begreifen, die Motivation der Kopftuchmädchen, die merkwürdig erscheinende Glaubenswelt der jungen Männer, man ahnt vage etwas vom Konflikt zwischen Tradition und Moderne, zwischen Religion und Atatürkschem Laizismus – aber wirklich und in der Tiefe verstehen: kann man’s, wenn man wenig von diesem Land weiß?

Man ahnt, dass etwas geschehen wird, von Anfang an weiß man das, versteht allmählich ein wenig, staunt, weiß ebensowenig wie die Bewohner von Kars, was Theater ist, was die Wirklichkeit, man liest, fragt sich, zweifelt, zweifelt auch daran, dass K. sich wirklich verliebt hat, fragt sich, warum er zum Scheich gegangen ist, fragt sich, ob es jemals aufhören wird zu schneien, fragt sich, wann die ersten sterben werden, fragt sich, ob es jemals ein Ende geben wird, hört nicht auf zu lesen, liest eine Art ungewöhnlichen Kriminalroman, einen politischen Roman, eine Liebesgeschichte, eine poetische Geschichte, mit sichtbaren und unsichtbaren Dimensionen und vielleicht erst bei der zweiten oder dritten Lektüre werden sie sich erschließen oder nie ....

Wer ein solch faszinierendes, geheimnisvolles Buch geschrieben hat, wer eine solche atmosphärische Dichte in seinen Romanen erreicht, wer es schafft, dass LeserInnen lange und immer wieder über die Bedeutung dieses Romans mit all seinen Ebenen nachdenken, wer es schafft, dass die LeserInnen noch Monate und Jahre später (nach der Lektüre) diese schneeflirrende Welt im Gedächtnis haben, als sei der Schnee ganz frisch und falle gerade eben, als halte er Kars immer noch vom Rest der Welt abgeschlossen, wer solche Bücher schreibt, der hat sich den Nobelpreis verdient.