3.7.13

Greifswald 2013



Greifswald 1987


Wo sich die Geister scheiden

Es war 1987, als ich einige Stunden Wartezeit zum Umsteigen auf dem Greifswalder Bahnhof zu verbringen hatte, in winterlicher Kälte und bei schon einbrechender, die wenigen Farben aufsaugenden Dämmerung, wanderte ich mit meinem schweren Gepäck vom trostlosen, kaum von Menschen frequentierten Bahnhofsgebäude gegenüber hin zu einem parkähnlich angelegten Wall, über den nur vereinzelt Menschen eilig liefen, mit geneigten Köpfen und hochgezogenen Schultern, sehr leise und abgewandt sprechend. Die Art ihrer Bewegungen, die Orientierung ihres Gehens ließen vermuten, dass unweit die Stadt zu finden war, eine lebendige Stadt mit allmählich eingeschaltenen Lichtern in Häusern und Geschäften, vielleicht mit einer Kaffeestube und Menschen...Wie wünschte ich mir diese Stadt jetzt, sollte ich etwa das Gepäck aufgeben und dorthin gehen, wo es heller zu sein schien? Aber würde man das Gepäck annehmen? Und wenn, würde man es mir wiedergeben? Und würde man mich überhaupt aus dem Bahnhof hinauslassen? Hatte ich nicht jetzt schon etwas Verbotenes getan, indem ich mich von meinem Bestimmungsort des Wartens entfernt hatte? Und was würde mir geschehen, wenn der Zug vielleicht früher abfuhr, wenn ich zu spät kam? Die Menschen, die an mir vorbeiliefen, schienen mich kaum zu bemerken, mich, die ich nun auf einer der steinernen Bänke zusammengekauert Platz genommen hatte, zitternd vor Kälte, ein Buch in der Hand, dessen Umschlag ich verdeckt hielt, in das ich von Zeit zu Zeit nur unaufmerksam hineinschaute, im Blick den allmählich von der Dunkelheit eingehüllten Bahnhof drüben, die Taschen rechts und links von mir und jenen Menschen nachschauend, die in dieser Stadt zuhause waren, die eine alte Universitätsstadt sein sollte, eine deutsche, versteht sich, und mir wurde noch elender zumute. Ich erinnere mich sehr gut, wie ich begann, über die Begriffe "hüben" und "drüben" nachzudenken und es in meinem Kopf rundging, was hüben und was drüben sei, von wo aus gesehen, usw., und ich kam einfach zu keinem Ergebnis, außer, daß ich diese beiden Begriffe in ihrer Verbindung als trotzdem amputiert und als verlogen - fatalistisch befand. Eine westdeutsche Abendsendung hatte diesen Namen getragen, seit meiner Kindheit hatte sich die pathetische Stimme des Rundfunksprechers "hüüben und drüüben", auf die ein Gong folgte, wie ein tautologischer Aphorismus in mein Sprachdenken eingenistet. Ich hatte zu diesen Begriffen eine kleine Funkerzählung geschrieben, die an einem Berliner Grenzsee angesiedelt war und die von einem berufswestberliner Radiomacher zynisch  abgewiesen worden war.
Noch heute kann ich körperlich diesem unendlich zähen Vergehen der Zeit nachfühlen, noch nie und niemals wieder sind mir 5 Minuten, immer wieder neue 5 Minuten so lang erschienen, so nutzlos und so ungefüllt. Als ich endlich im Anschlußzug saß, durchgefroren, hungrig, leer, in einem der überheizten Abteile mit den durchgehenden Sitzbänken aus dunkelrotem Kunstleder einander gegenüber, fanden sich sehr schnell weitere Reisende ein, das Abteil füllte sich mit Menschen aus der arbeitenden Bevölkerung, sie rückten ohne Vorbehalte sehr nahe an mich heran, ich verstaute endgültig mein Buch im Gepäck und ich schaute zum ersten Mal bewußt in einige der verwischten, verstörten und wie ins Innere des Kopfes sich einziehenden Physiognomien, die sich jedoch ungeachtet meiner Person, munter und ausgiebig über günstige Gelegenheiten, an Kohle und Brikett zu kommen, unterhielten, was ich bei Ankunft sofort meiner Gastgeberverwandtschaft mitteilen konnte und was sie dankbar, ja recht erstaunt über mein internes Wissen, bald schon verwerten konnten.
Heute weiß ich, daß ich hätte meinem Bedürfnis folgen dürfen, und heute wissen jene anderen Menschen, die fast all jene Bücher kennen, die ich einmal als Schatz von hüben nach drüben transportiert und manchmal auch geschmuggelt hatte, von meiner Greifswalder Bahnhofs-Passion. Sie leben in Greifswald und sie sind meine Freunde; ob es jene Eiligen waren, die leise und abgewandt von mir, miteinander gesprochen hatten, die ich hätte ansprechen sollen - es ist unwichtig geworden...Wir arbeiten zusammen, wir schmieden soziale und kulturelle Projekte, wir vermitteln einander neue Gedanken. Die Basis unserer Kritik an diesem System ist eine gemeinsame, wenn sie auch von unterschiedlichem Wurzelwerk durchdrungen ist.